The World at War

"Kriegsneurosen"
als psychisch-soziale Mangelkrankheit
von Heinrich Wietfeldt
Nervenarzt in Bremerhaven
1936

Herrn Dr. Max Nonne zu Hamburg
ehrerbietig gewidmet vom Verfasser

Vorwort

     Diese Arbeit wurde in ihrer Idee erfaßt im Frühjahr 1919. Äußere schwierige Verhältnisse verzögerten und erschwerten die Ausführung und ließen mich jahrelang nicht zu dieser mir am Herzen liegenden Arbeit kommen. Aber vielleicht hatte auch das sein Gutes, "Nonum prematur in annum" sagt der römische Dichter Horaz; zu deutsch, ein Manuskript soll 9 Jahre ablagern. Manchmal dürfte auch für wissenschaftliche Arbeiten eine längere Reifungszeit ratsam sein. Das Manuskript wurde im Februar 1935 abgeschlossen.

     Prof. Dr. Nonne, der die Güte hatte, mein Manuskript zu lesen, wies mich im November 1935 auf die Arbeiten Prof. Dr. Viktor von Weizsäckers - Heidelberg hin. Da mir die Beschaffung der vollständigen Literatur nicht möglich war, sind mir diese epochemachenden Mitteilungen bis dahin nicht bekannt geworden. Prof. v. Weizsäcker überließ mir die betreffenden Abdrucke seiner Arbeiten zur Einsicht, wofür ich ihm auch an dieser Stelle meinen Dank sage.

     Die betreffenden Arbeiten v. Weizsäckers, besonders "Soziale Krankheit und soziale Gesundung", Berlin 1930, "Ärztliche Fragen", Leipzig 1935, beschäftigten sich mit den Sozialneurosen unter Friedensverhältnissen.

     Meine Auffassung der Kriegsneurose fügt sich in das idealistische pathogenetische System der sozialen Krankheit v. Weizsäckers als Spezialfall ein. Als Beleg einige Zitate aus v. Weizsäcker: "Nur in einem gesunden, d.h. menschlich belebten und beseelten Leib sind die Leistungen des Verstandes, Gemütes, der Sinne und der Muskeln gesund" (Soziale Krankheit und soziale Gesundung, S. 52). Vergleiche dazu aus meiner Mitteilung: Die Kriegsneurose hat uns gezeigt, daß auch die körperlichen Funktionen ohne richtigen Affekt in Unordnung geraten. Ohne richtigen Affekt, kein richtiges Denken und Handeln. (S. 27.)

     v. Weizsäcker gibt eine Definition des Begriffs Krankheit: "Krank ist jemand, der das gesollte, nämlich Arbeiten, nicht wollen kann" ("Über den Begriff der Arbeitsfähigkeit", Dtsch. med. Wschr. 1931, Nr. 39 und 40). In "Ärztliche Fragen" 1935, S. 75, sagt v. Weizsäcker: "Die nervöse Arbeitsunfähigkeit aber bedeutet: Die seelische Gemeinschaft ist für diesen Menschen zerstört worden, und dieser Fall ist politisch, ethisch und religiös der Entscheidende."

     Die Zunahme der Kriegsneurose, d. h. der Kampfunfähigkeit des Soldaten, war eine politische Gefahr und hat den Boden für die Saat der Zersetzung mit vorbereitet, gleichzeitig war sie ein Symptom der Auflockerung der Volksgemeinschaft. Mein Vorschlag, die Kriegsneurosekranken in Genesungslagern zu heilen, scheint mir auch aus dem Grunde aussichtsvoll, weil die Neurosen der Sozialversicherten schon seit einigen Jahren mit Erfolg von v. Weizsäcker und Unger in Form eines Gemeinschaftslebens in Anstalten behandelt werden.

     Aus der neuesten Mitteilung v. Weizsäckers: " Soziologische Bedeutung der nervösen Krankheiten und der Psychotherapie" (Zbl.f. Psychotherapie 1935, H. 5): "Ebenso oft aber läßt sich nachweisen, daß die Gemeinschaft als solcher, d.h. ihr organischer Werdezusammenhang gestört ist und daß diese Störung es ist, welche man als die Ursache der individuellen Erkrankung ansehen muß." - "Dabei wissen wir alle, welche gewaltige Abkürzung des Weges es bedeutet, wenn der Staat in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Errichtung zweckvoller Organisationen, wie Arbeitsdienst und Heer, seine Hauptkraft einsetzt und damit therapeutisches Flickwerk von Fall zu Fall erübrigt." Soweit v. Weizsäcker.

     Die vertiefte Betrachtung der Kriegsneurose läßt die lebendige Erkenntnis erwachsen, daß die seelische Gesundheit des einzelnen im Boden der Volksgemeinschaft und in der Beziehung zum Volke wurzelt.

     Zum Schluß ist es mir eine angenehme Pflicht, Herrn Oberfeldarzt Dr. Zechlin, Chefarzt des Standortlazarets Goslar, für die Mitteilung eigener Erfahrungen und Überlassung von Literatur auch an dieser Stelle meinen Dank auszusprechen.

Bremerhaven, im April 1936
Heinrich Wietfeldt

     Das Problem der Kriegsneurose scheint geklärt zu sein, wurde aber praktisch nicht gelöst, wie die große Zahl der im Kriege als dauernd untauglich entlassenen Kriegsneurosefälle zeigt. Nach der geltenden Auffassung wird Begehrungsvorstellung und Timor belli als Ursache registriert. Die Ganzheit der Person wird nicht berücksichtigt. Begehrungsvorstellung schien mir schon 1916 als Ursache fraglich, da bei der plötzlichen Art des Auftretens der Symptome ein so echtes Krankheitsbild schwerlich entstehen konnte.

     Die Annahme des Timor belli als Ursache ist naheliegend. Im Frieden ungewöhnlich, war die Krankheit im Kriege nicht selten. Die zeitlichen und örtlichen Besonderheiten des Auftretens der Kriegsneurose wurden bei der allgemeinen Annahme des Timor belli nicht hinreichend gewürdigt. In den ersten Kriegsmonaten trat die Kriegsneurose selten auf. Man denke an die Begeisterung dieser Zeit, wer wußte da etwas von Timor belli? Seit Ende 1914 nahm die Kriegsneurose zu; andererseits blieben ganze Regimenter dauernd frei. Kriegsneurose war an der Front seltener wie in der Heimat; auch in der Heimatgarnison kam sie in manchen Fällen in Form der Schreckreaktion mit massiven Symptomen vor. Lebhafter Timor belli dürfte in der Heimat eher zu anderen Reaktionen geführt haben, z.B. Kranmeldung mit unklaren Beschwerden, Simulation, Selbstverstümmelung oder unerlaubte Entfernung. Die Kriegsneurose wurde ebenso wie diese Fälle auf "Dysbulie" oder "defektes Gesundheitsgewissen" zurückgeführt als Abwehr gegen den Kriegsdienst mit der Einschränkung, daß der schlechte Wille nicht oder weniger bewußt war.

     Nach meinen Beobachtungen im Kriege stellten die wirklich echten Kriegsneurosekranken charakterologisch eher eine günstige Auslese dar, manche erinnerten an den Typ, den Heyer kürzlich als "Institutionsmenschen" beschrieben hat.

     Binswanger stellt die Zwecktendenz hinter instinktiver Abwehrreaktion zurück (Schjerning, "Handbuch der ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege").

     Nach meiner Auffassung wurde die Kriegsneurose nicht verursacht durch den speziellen negativen Affekt des Timor belli, sondern durch die allgemeine Verarmung an positiven Affekten.

     Wenn in Fällen von Kriegsneurose Timor belli scheinbar offenkundig war, so sind auch diese durch die allgemeine Affektverarmung verursacht, wodurch erst die Hypertrophie des Timor belli ermöglicht wurde. Die Bedingungen für eine verbreitete Affektverarmung waren im Weltkriege im Gegensatz zu den Kriegen des 19. Jahrhunderts gegeben. Die besonderen Verhältnisse, die dazu führten, werden weiter unten erörtert. Der Stellungskrieg verlangte Leistungen, die einen starken Affektverbrauch bedingten. Siegreichen Vormarsch zu erleben war nur einem Teil des deutschen Heeres vergönnt; Hindenburg schildert den belebenden Einfluß des Bewegungskrieges in Polen auf die Stimmung des Soldaten in seinen Lebenserinnerungen. Bei diesen Truppen dürften Neurosen damals kaum vorgekommen sein.

     Im Frieden war dauernde Affektverarmung selten. Wechsel der Umgebung oder Aufsuchen neuer affektiver Beziehungen waren möglich; eine Ausweichmöglichkeit war auch der Trost im Alkohol oder Suchten. Hiermit ist schon das Gebiet der Neurose berührt. In extremen Fällen von Affektverarmung kam es auch im Frieden zur Neurose unter Symptomen, wie sie auch bei Kriegsneurose auftraten. Für den Soldaten fehlten die erwähnten Ausweichmöglichkeiten. Völliger Affektverlust konnte zum Suizid führen. Es ist eine Beziehung wahrscheinlich zwischen der Zahl der Suizide der Heeresangehörigen und der Kriegsneurosefälle. Statistische Daten darüber liegen mir nicht vor.

     Den Zustand des affektverarmten Soldaten im Kriege möchte ich dem eines Polarfahrers vergleichen ohne wärmende Kleidung. Wie dieser durch äußere Kälte gefährdet wird, so gerät jener in die Gefahr psychischer Vernichtung durch Seelenkälte. Beiläufig sind die Symptome des autonomen Nervensystems bei der Kriegsneurose zum Teil die gleichen, wie die durch Kälteeinwirkung hervorgerufenen.

     Zur Darlegung meiner These zunächst ein Fall mit dem Symptombild der Kriegsneurose aus der Nachkriegszeit: 1923 bringt mir eine Mutter ihre 17jährige Tochter, die als Kindermädchen wegen Kopfschüttelns entlassen werden soll. Stammt aus gesunder Familie. Das bisher gesunde Mädchen hatte auf dem Jahrmarkt in einer Schaubude einen sog. "Motormenschen" gesehen, der in angeblicher Fakirart Faxen machte. Das Mädchen fing gleich nach Verlassen der Bude mit Kopfschütteln an und hörte nur im Schlafe damit auf. Es war das bekannte Bild, wie es der Kriegsneurotiker zeigt. Aussprache und Suggestion genügten zur Heilung. Das Kopfschütteln war nach dem übermächtigen Eindruck aufgetreten. Die "Ursache" lag aber tiefer: Die Exploration ergab ein Isolationsgefühl, das sie in ihrer ersten Stellung in einer ihr fremden Umwelt empfand.

     In den Fällen von Kriegsneurose war meines Erachtens die psychische Isolierung und affektive Verarmung der disponierende fixierende Faktor. Der Anlaß war mannigfach. Artilleriebeschuß mit oder ohne Verschüttung, das Angedonnertwerden durch einen Vorgesetzten (besonders bei jungen Rekruten und ungedienten Landsturmleuten), traurige Nachrichten aus der Heimat, Tod von Kameraden, Selbstvorwürfe über vermeintliche eigene Fehler in der Führung. Der auffällige Unterschied der Kriegsneurosehäufigkeit bei Offizieren und Soldaten trug wesentlich dazu bei, die geltende Auffassung zu begründen. Der gesund erhaltende Faktor lag meines Erachtens in der Wirkung der psychischen Umwelt. Die Kriegspsychiater erkannten diesen Faktor nicht; sie waren in einer positiv affektbesetzten Umwelt tätig, in der Mehrzahl in gehobener Stellung als Sanitätsoffiziere. Vielleicht wurde auch aus diesem Grunde die Bedeutung der psychischen Umwelt für den einfachen Soldaten übersehen. Bei den Besonderheiten dieses Krieges war es von vorneherein wahrscheinlich, daß eine Anzahl von Soldaten dem Zustand chronischer Affektverarmung verfielen. In Unkenntnis dieser Gefahr erfolgte eine Vorbeugung nicht. Wenn der Soldate merkte, daß Timor belli die Ursache seiner Kriegsneurose sein sollte, so war er gegen die Unterstellung wehrlos. Die Affektverarmung an sich konnte Angstzustände zur Folge haben. Wer wußte sich zudem im Kriege immer und überall frei von Angst? Auch bewährte Soldaten bekannten, zeitweise Angst gehabt zu haben. Angst tritt bei Neurotikern auch im Frieden primär und ohne Lebensbedrohung auf. So ist es erklärlich, daß von der großen Zahl der echten Kriegsneurotiker auch späterhin sich keiner gegen die Unterstellung des Timor belli als Ursache verteidigte. Es wäre dazu Gelegenheit gewesen, da in der Nachkriegszeit das Problem in einer verbreiteten Nichtfachzeitschrift erörtert wurde.

     Das Problem der Kriegsneurose wurde auf der denkwürdigen Kriegstagung des Deutschen Vereins für Psychiatrie in München am 21. und 22. IX. 1916 erörtert. 241 Psychiater waren anwesend. Die überwiegende Zahl der Teilnehmer trat Nonnes psychogener Auffassung der Kriegsneurose bei; Oppenheim hatte mit seiner Auffassung einen schweren Stand. Tiefen Eindruck machten Nonnes Demonstrationen seiner hypnotischen Technik, wobei Symptome, wie Lähmung und Ziettern hervorgerufen und beseitigt wurden. Oppenheim bemerkte, daß eine solche Therapie nichts Neues sei. Trotzdem war Nonnes erfolgsichere Therapie der massiven und grotesken, in der Art kaum gekannten Krankheitsbilder für die Teilnehmer ein Erlebnis. Während bisher die Psychotherapie noch um ihre Anerkennung zu kämpfen hatte, namentlich in Form der Hypothese, wurde sie jetzt zu einer anerkannten und unentbehrlichen Methode der Kriegsmedizin.

"Mit ihrem heiligen Donnerschlage, mit Unerbittlichkeit vollbringt
Die Not an einem großen Tage, was kaum Jahrhunderten gelingt."

     Die mangelnde Verständigung zwischen Oppenheim und Nonne rührte im wesentlichen daher, daß Oppenheim die Macht der Psyche unterschätzte und so seine richtigen Beobachtungen in Nonnes Theorie nicht einordnen konnte. "Wenn Sie das alles hysterisch nennen, wo sind dann die Grenzen zu finden", sagte Oppenheim. Nonne trug dem in seinem Schlußwort Rechnung, "der Begriff der Hysterie würde ein viel weiterer werden und den Begriff des Nichtstandesgemäßen verlieren". Oppenheims Beobachtungen waren meines Erachtens zutreffend, so besonders das Fehlen von Begehrungsvorstellungen in vielen Fällen und das Glücksgefühl der Patienten nach gelungener Heilung, worauf auch Muck und Kaufmann hinwiesen.

     Im Anschluß an die Kriegstagung wurden Begehrungsvorstellung und Timor belli die anerkannten Ursachen der Kriegsneurosen. Neben Oppenheims Beobachtungen standen auch die einer Reihe anderer Autoren mit dieser Auffassung im Widerspruch. Dahin gehört auch das seltenere Auftreten der Kriegsneurose an der Front wie in der Heimat, die besseren Heilerfolge an der Front, auch Nonnes Beobachtung, daß von ihm geheilte Fälle als kriegsverwendungsfähig sich in schwersten Kämpfen bewährt hatten. Wilmanns, der die Kriegsneurose als unbewußte Abwehr gegen den Kriegsdienst auffaßt, hatte beim XIV. Armeekorps im Heimatlazarett von seinen Fällen höchstens 3,2% als kriegsverwendungsfähig im engeren Sinne entlassen, dagegen als dauernd untauglich aus dem Heeresdienst 74%. Böttiger-Hamburg heilte in seinem Kriegslazarett in Belgien fast 100% der frischen Kriegsneurosefälle. Ähnliche gute Resultate nahe der Front hatten andere Autoren, so Jacobs-Hamburg. Man wäre der Lösung des Problems näher gekommen, wenn man sämtlichen Möglichkeiten der Erklärung dieser Differenz in den Heilerfolgen nachgegangen wäre.

     Angesichts der Dringlichkeit ging die offizielle Auffassung darüber hinweg. Man war zufrieden, für die peinliche, die Kampfkraft der Truppe bedrohende Kranhkeit eine Formel gefunden zu haben. Verhängnisvoll wurde hierbei der Rentengesichtspunkt. Das Bestreben, die unberechtigten Rentenansprüche abzuweisen, trug dazu bei, auf die Wiederherstellung der Kriegsverwendungsfähigkeit als im Durchschnitt zu erreichendes Ziel zu verzichten. Die Kranken wurden arbeitsverwendungsfähig Heimat oder in die Kriegsindustrie aus dem Heeresdienst entlassen. Dagegen wurden die Verwundeten in der Mehrzahl wieder kiregsverwendungsfähig. So wurde der Boden für Simulation und Übertreibung bereitet. Gegen Kriegsende und in der Nachkriegszeit nahmen diese zu. So konnte man 1919 noch Kofpschüttler sehen, die auf das Mitleid spekulierten und ihr "Symptom" nach Belieben ein- und ausschalten konnten. Die absoluten Zahlen der wegen Kriegsneurose der Front entzogenen Fälle sind mir nicht bekannt, doch dürfte der Ausfall für das Heer 1918 fühlbar geworden sein. Während Nonne auf der Kriegstagung den Kriegsneurotikern sympathisch gegenüber steht und betont, daß Kriegsneurose auch bei bisher Vollwertigen nicht selten sei, ist seine Einstellung im Handbuch der ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege 1922 wesentlich ungünstiger. Es ist dies zu verstehen, da 1916 die Fälle von Kriegsneurose überwiegend echte waren und seitdem Übertreibung, Rentensucht und Simulation zunahm.

     Nonnes Auffassung betreffs der psychogenen Entstehung teilte ich, hatta uch den Vorzug, von ihm in der Therapie der Kriegsneurose unterwiesen zu werden. Nur die Art der psychogenen Entstehung schien mir nicht genügend erklärt. Auf der Kriegstagung und noch mehr in der Folgezeit nahm man für die Kreigsneurose Psychopathie als häufige Grundlage an. Gegenüber der Ausdehnung des Begriffs Psychopahtie sagte Oppenheim, "er möchte wohl wissen, wieviel Menschen vor dem Urteil dieser gestrengen Herren als Nichtpsychopathen übrig bleiben". Die Annahme der Psychopathie war meines Erachtens eine petitio prizipii.

     Bonhöffer sagte auf der Kriegstagung, in spätestens 30 Jahren werde das Ergebnis der Tagung überwunden sein. In der kriegsürztlichen Gedenknummer der Münch. med. Wschr. vom 3.8.1934 hält Bonhöffer in seinem Refarat an der Auffassung der Kriegstagung fest.

     Willmanns sah die Kriegsneurose wie eine psychische Infektion an, er fand es "erstaunlich", daß die Krankenschwestern in den Lazareetten nicht angesteckt wurden. Die Schwestern wurden meines Erachtens nicht neurotisch, da sie mit dem übrigen Pflegepersonal und den Ärzten, sowie unter sich eine affektverbundene Gemeinschaft bildeten.

     Auf der Kriegstagung wies Mörchen auf die Tatsache der großen Seltenheit der Kriegsneurosen unter Kriegsgefangenen hin. Die Leute hatten in zahlreichen Fällen schwere körperliche und psychische Kommotionsschädigungen erlitten. Dieser Zustände sind aber bei und unmittelbar nach der Gefangennahme abgeheilt. Mörchen erblickt in dem Entlastungsgefühl den wichtigsten, direkt therapeutisch wirkenden Faktor. Bonhöffer bezieht sich in seiner oben erwähnten Mitteilung auf die Beobachtungen an Kriegsgefangenen als wesentlichen Beweis für die bekannte Auffassung, ebenso Nonne in Schjernings Handbuch. Oppenheim erkannte das Entlastungsgefühl nicht als maßgeblichen Faktor an; er wies darauf hin, daß der mächtige Impuls in das Heimatlazarett entlassen zu werden, nicht die Macht habe, die schweren Krankheitserscheinungen zum Weichen zu bringen. Auch nach dem Waffenstillstand wurden nicht alle Kriegsneurosefälle der Lazarette gesund. Mörchens 8 Fälle von Kriegsneurose, die er in 1 1/2 Jahren unter 60000 französischen Gefangenen gesehen hat, zeigen daß das Entlastungsgefühl das Auftreten der Kriegsneurosen nicht immer verhindert. Meines Erachtens war bei und unmittelbar nach der Gefangennahme nicht ohne weiteres Entlastung von Gefahr gegeben; die Gefangenen blieben oft noch mehr oder weniger lange in der Feuerzone. Die von Mörchen erwähnten raschen Heilungen der psychischen Kommotionsschäden, also der Kriegsneurosefälle der Gefangenen, führe ich in erster Linie auf zwei Faktoren zurück: 1. Das Symptom wurde nicht iatrogen fixiert. Meine eigenen und fremden Beobachtungen haben gezeigt, daß die Symptome durch ärztliche Beobachtung verstärkt, in manchen Fällen dadurch hervorgerufen wurden, nachdem sie bereits geschwunden waren. Einen lehrreichen derartigen Fall führt Gaupp in Schjernings Handbuch an. Für die Bedeutung der iotrogenen Fixierung sprechen auch die schlechten Heilerfolge im Heimatlazarett. Nonne erwähnt, daß die Neurose durch Begutachtung erhablich aktiviert wird; nach der geltenden Auffasung durch Begehrungsvorstellungen, meines Erachtens durch die psychische Isolierung egenüber dem Arzt. Natürlich sind Begehrungsvorstellungen auf Rente vielfach vorhanden gewesen, ihre Bedeutung für das Auftreten echter Symptome wird überschätzt, reichten doch auch in der Vorkriegszeit diese Begehrungsvorstellungen bei sog. traumatischer Neurose kaum je aus, festsitzende massive Symptome wie bei der Kriegsneurose, zu erzeugen. Auch für die Nachkriegszeit betont Nonne das Verschwommene der Symptome bei Rente begehrenden Kriegsneurosefällen. 2. Die Gefangenschaft wirkte meines Erachtens zunächst nicht als Entlastung, sondern als psychischer Schock. Hierfür sprechen die Angaben Deutscher, die an der Front in Gefangenschaft gerieten. Der Schock war geeignet, die Fixierung der Symptome zu verhindern, ähnlich den heilsamen schmerzhaften Reizen der Kaufmannschen Methode. Die Gefangenen waren überwiegend bewährte Soldaten, die lange vorne gewesen waren; auch bei uns war die Kriegsneurose in vorderster Linie selten. Zeitweises Zittern kam bei langem Trommelfeuer im Unterstand bei sonst Gesunden vor, es verschwand spontan, ohne daß eine Entlastung gegeben war. Es sind dies die Grenfälle, die theoretisch auch zu fordern sind. Bei etwaiger Gefanennahme hätte man nach Mörchen das Verschinden des Symptoms auf Entlastung zurückgeführt.

     O. Förster, Breslau, erwähnte auf der Kriegstagung Kraepelins Theorie von dem Erwachen immanenter Schutzmechanismen, Die Symptome der Kriegsneurose, wie Zittern, Lähmungen, Mutismus, Aphonie bis zu den ätiologisch gleich geordneten hysterischen Psychosen widersprechen in ihrer Symtomatik einem Schutzmechanismus. In diesen oder ähnlichen Formen können die Symtpmbilder auch in phylogenetisch weit zurückliegenden Zeiten ihrem Träger nur geschadet haben. Der einzige Schutzmechanismus, der in Kraepelins Sinne als zweckmäßic aufgefaßt werden könnte, wäre eine Art Totstellreflex gewesen. Wie will man die Symptomatik des bekannten Kriegsneurosefalles des Mannes, der auf allen Vieren ging und bellte (auch in Schhjernings Handbuch erwähnt) mit dem Auftreten immanenter Schutzmechanismen erklären? Meines Erachtens drückt diese Symptomatik eine bestimte seelische Haltung aus: Ich bin ein Kind, schenkt mir Liebe wie einem Kinde.

     Das Symptom des Zietterns wäre als Schutzmechanismus unzweckmäßig gewesen. Zittern als Symbol des Abschüttelns von etwas Unangenehmen wird weiter unten durch einen Fall eräutert. Förster sagte auf der Kriegstagung: "Welcher Faktor führt nun zur Fixation der Erscheinungen? In der Fixation liegt erst das Pathologische, spezifisch Neurotische. Es ist ein psychischer Faktor, welcher fixiert; man hat die Begehrungsvorstellung, die Furcht vor dem Schätzengraben herangezogen. So bewußt ist der fixierende psychische Faktor aber nicht. Höchstens wirken diese Vorstellungen ausläsend für den eigentlich fixierednen Faktor, denn er ist ein Affekt; ich habe dieselbe Auffassung wie Kraepelin, ein unbewußter phylogeneitsich immanenter Instinkt, Trieb zur Selbsterhaltung, zur Erlangung von Vorteilen usw." Es bleibt also schließlich doch bei dem allgemeinen Begriff der Begehrungsvorstellung oder des Triebes zur Selbsterhaltung. Die Bestimmung des fixierenden Faktors gibt Förster nicht. Nach meiner These ist dieser Faktor die Affektverarmung.

     Gegen die Annahme der Begehungsvorstellung und Timor belli als maßgebliche Ursache spricht schon die in fast 100% erfolgte Heilung mit voller Kriegsverwendungsfähigkeit der Kriegsneurosefälle durch manche erfolgsicheren Therapeuten, wie Böttiger, Jacob u.a. Isserlins und Nonnes geheilte Kriegsneurosefälle zeichneten sich vielfach später an der Front aus.

     Es scheint mir, daß viele Ärzte sowohl im Kriege wie heute die Neurosen zu schematisch als Zwecktendenzen im Sinne der Wunscherfüllung oder der Selbsterhaltung auffassen. Meines Erachtens sind die Neurosen ebensowenig wie die Träume auch nur in der Mehrzahl der Fälle Wunscherfüllung, sondern stellen oft ein Ringen mit einem psychischen Problem dar. Man vernachlässigt, daß es Neurosen gibt, bei denen eine Zwecktendenz nicht ersichtlich ist im Sinne einer Wunscherfüllung. Neurosen, die eine Selbstbestrofung darstellen oder eine anagogische Tendenz haben, werden in ihrer Bedeutung oft übersehen. Auf die anagogische Tendenz ist neuderings von Bjerre und anderen hingewiesen.

     Ein Fall, der mir die Läcke in der Erklärung der kriegsneurosen ausfüllte, kam 1919 zu mir. Kräftiger Fuhrmann, Mitte der Dreißiger, das linke Bein zieht er nach in der bekannten spastischen Art. Im Kriege habe er dasselbe gehabt, sei geheilt und habe wieder Dienst getan. Dann bis jetzt gesund. Nach heftigem Zahnschmerz mit schwieriger Extraktion erneut Auftreten des Symptoms. Keine Zeichen von Psychopathie; ruher verständiger Mann, der Fall erinnerte mich an symptomatisch und charakterologisch ähnliche Kranke währned des Krieges. Im Kriege wäre dieser Fall wohl in der bekannten Weise ausgelegt worden. Nonne wies in Schjernings Handbuch 1922 darauh hin, daß geheilte Kriegsneurosefälle bei unangenehmen Erlebnissen auch im Frieden Rückfälle haben könnten. Mir scheint, daß die besonderen Bedingungen eines solchen Rückfalls wichtig sind zum Verständnis des ersten Auftretens der Kriegsneurose. Die Exploration ergab, daß der starke Zahnschwerz zu einer Zeit psychischer Vereinsamung aufgetreten war; gleichzeitig mangelte häusliche Pflege. Ohnehin war er einsam und nun doppelt einsam durch den Schmwer. "Einzig in der engen Höhle des Backenzahnes weilt die Seele" (Wilhelm Busch). Psychokatharsis genügte zur Heilung. Der Fuhrmann war in keiner Krankenkasse, hatte als selbständiger Unternehmer nur Schaden von seiner Krankheit, wollte auch keine Kriegsrente haben.

     Ein weiterer Fall 1926: Nach einer unbedeutenden Weichteilverletzung mit nachfolgendem kleinen Eingriff bekommt Zimmermann H. aus der Narkose erwachend Zittern der Beine, wie er es im Kriege gehabt hatte. Es gelang ihm, den Tremor zunächst zu unterdrücken, indem er, wie er angab, alle Energie zusammennahm. Obwohl H. keine Rentenansprüche stellte, wurde er von der Berufsgenossenschaft mir überwiesen. Patient trat ohne Zittern bei mir ein. Vor und während der Untersuchung begann der bekannte sehr rasche Tremor der Unterschenkel und Füße; nach Angabe des H. ebenso bei der Nachuntersuchung durch den Chirurgen. Die Behandlung drohte an dem Mißtrauen gegen die Ärzte zu scheitern, dazu kam Erregung über einen Aufsatz von Prof. Kretschmer, Marburg, in der "Berl. Illustr. Zeitung" Ende 1926, worin K. die bekannte Auffassung der Kriegsneurosen gemeinverständlich vortrug. Nachdem H. sich überzeugt hatte, daß meine Auffassung eine andere war, gewann er Vertrauen zu mir. Kathartische Aussprache genügte zur Heilung.

     Das Symptom trat auf, als H. aus der Narkose erwachend sich in der ihm vom Kriege her unsympathischen Lazarettumwelt befand. Nach mehrjährigem Frontdienst als Pionier und Bewährung vor Verdun hatte er einen Konflikt mit seinem Hauptmann, wurde mit Strafwachen bedacht, die er jedesmal nach Rückkehr aus der vordersten Linie anzutreten hatte. Zunächst trat nur erschwertes Gehen auf; er wurde abkommandiert, kam als Niederdeutscher in eine schlesische Garnison. Als er dort beim Exerzieren hart angefahren wurde, stürzte er mit Zittern der Beine zu Boden. Nach Aufenthalt in mehreren Lazaretten wurde er ungeheilt dauernd untauglich entlassen und in der Heimat allmählich "von selbst " gesund. Der nach Art eines bedingten Reflexes Pawlows aufgetrentene Rückfall wurde durch die neugebildete positive Affektbeziehung zum Artz beseitigt.

     Während der Niederschrift dieser Mitteilung finde ich eine Stütze meiner Auffassung von philosophischer Seite. In seinem Buch "Die geistige Situation der Zeit" sagt Prof. Karl Jaspers Allgemeingültiges, das sich auf das vorliegende Problem anwenden läßt. "ist das Dasein seelisch nicht mehr aufnehmbar, unerträglich in der Unmöglichkeit, auch nur seine Bedeutung zu fassen, so flieht der Mensch in seine Krankheit, die ihn wie ein Übersehbares schützend aufnimmt. Denn der Mensch bedarf in den Grenzsituationen, die als blße Daseinserfahrungen ihn innerlich zerbrechen, entweder des Selbstseins der Freiheit oder eines objektiven Halts. Angst steigert sich zu dem Bewußtsein, wie ein verlorener Punkt im leeren Raum zu versinken, da alle menschlichen Beziehungen nur auf Zeit zu gelten scheinen." Auf die Kriegsneurosen angewandt, kann der Ausdruck "Flucht in die Krankheit" mißverstanden werden. Meines Erachtens handelt es sich nicht um die Flucht vor der äußeren Gefahr, sondern der Mensch rettet sich vor der seelischen Verödung in das äußere Symptom.

     Zu dem Zitat aus Jaspers ein Fall von Binswanger in Schjernings Handbuch: Offizier mit Zietterneurose, 1914 erkrankt nach dienstlicher unangenehmer Mitteilung. Der Kranke schildert: "Bleiernes, leeres, steifes Holzpuppengefühl vom Rückgrat her, bekemmend um Kopf und Brust emporsteigend. Zittern brachte gleichsam Erleichterung, als ob ich etwas Unangenehmes abzuschütteln vermöchte." Der Symbolcharakter des Symptoms ist ausgesprochen. Das Zittern ist eine Art provisorische Stellungnahme zu der unerträglichen Situation. Das bleierne Gefühl dürfte auf Störung im Sympathikus zurückzuführen sein.

     Auf der Kriegstagung erwähnten Goldstein und Seige, daß die französische Zivilbevölkerung trotz wochenlangen schweren Artilleriefeuers keine Neurosen zeigte. Die Beobachtung entspricht meiner Auffassung: Die betreffende Bevölkerung lebte in der altvertrauten äußeren und psychischen Umwelt. Das starke Familien- und Verwandtschaftsgefühl der Franzosen ist bekannt. Diese positive Affektlage machte gegen Neurose immun. Der französische Soldat erkrankte zum mindesten ebenso häufig wie der Deutsche an Kriegsneurose. Die starke Familienbindung und das Heimatgefähl des bekanntlich wenig reisenden Franzosen ließ ihn die Trennung schmerzlicher empfinden und erschwerte das Anknüpfen neuer affektiver Beziehungen.

     Die wesentliche Verschiedenheit der einzelnen Volksklassen in bezug auf das Auftreten der Kriegsneurose erwähnte Knauer auf der Kriegstagung, Gaupp in Schjernings Handbuch die landsmannschaftlichen Unterschiede. Truppen aus fluktuierender Bevlkerung erkrankten leichter als solche aus Landbevökerung. Gaupp betont die Häufigkeit der Kriegsneurosen bei jungen Rekruten und ungedientem Landsturm. Massive monosymptomatische Formen der Kriegsneurose kamen namentlich bei jungen ungebildeten debilen Personen vor. Meines Erachtens dürften Heimweh und Mangel an Übung in der Entwicklung neuer Affekte in solchen Fällen zu psychischer isolierung geführt haben. Diese psychisch-sozialen Faktoren wurden bisher übersehen, man sprach von dem "defekten Gesundheitsgewissen" und der Dysbulie. Auf der Kriegstagung wurde die große Seltenheit des Vorkommens der Kriegsneurosen bei Offizieren hervorgehoben und wohl damit erklärt, daß die Kraft der ideellen Vorstellung bei diesen größer sei. Wenn ausnahmsweise eine Neurose bei Offizieren auftrat, handelte es sich stets um einen ausgesprchen degenerativ Belasteten; aber die Mehrzahl dieser Fälle wurde nach einigen Wochen wieder kriegsverwendungsfähig (Curschmann auf der Kriegstagung). Nicht beachtet wurde der Unterschied, der in der psychischen Umwelt für Offizier und Mann bestand. Die Offiziere hatten vielfach ihr Kasino, fanden unter Kameraden von gleicher Bildung und Anschauungsweise leicht näheren Anschluß. Kamen unüberbrückbare Mißhelligkeiten vor, so bestand die Möglichkeit, durch Abkommandierung in geeignetere Verhältnisse zu kommen. Die positiv affektbesetzte psyschische Umwelt machte den Offizier gegen Neurose immun, ebenso die durch Erziehung und Beispiel von Jugend auf effektiv verankerten seelischen Werte.

     In der Freundschaft zu Kameraden und dem Vertauen zum Vorgesetzten ist der objektive Halt, von dem Jaspers spricht, gegeben. Dieser Halt dürfte praktisch wichtiger sein als die "ideellen Vorstellungen" Bonhöffers, dem etwa das "Selbstsein der Freiheit" Jaspers entspricht. Dieser Standpunkt wird erfahrungsgemäß nur von einer Minderzahl auf weltanschaulicher oder vaterländischer Basis erreicht. Für die praktische militärische Psychologie ist der Weg über den Affekt der gegebene. Die Entwicklung der ideellen Vorstellungen wird man dabei nicht vernachlässigen, sie erfordert aber weit mehr Zeit und ist in ihren Resultaten in derhöhtem Maße abhängig von der vormilitärischen Erziehung und Intelligenz der Mannschaften.

     Der einfache Soldat stand unter weniger günstigen Bedingungen für die Gesunderhaltung seines Affektlebens. Der Stellungskrieg führte oft lange zu untätigen Warten, die Enge des Schützengrabens sowie der Kaserne in der Garnison konnte zu Spannungen und Konflikten führen, ohne daß eine Ausweichmöglichkeit bestand. Der Anfschluß an Landsleute war nicht immer gegeben oder ging durch Erkrankung, Verwundung, Umkommandierung verloren. Die Berichte der Frontkämpfer zeigen die Wichtigkeit, die diese dem Zusammenbleiben mit ihrer Gruppe beilegten. Mir ist der Fall eines Pioniers bekannt, der an der Front einen Unterleibsbruch bekam und verheimlichte, um nicht von seiner Gruppe abzukommen und bis zu seiner späternen Verwundung an der Front blieb. Der Gebrauch des heimatlichen Dialektes ist für viele eine Notwendigkeit, um sich auszusprechen. Die Familien- und Heimatbindung ist oft überstark, sie erschwert neue affektive Beziehungen. Hindenburg führt die großen Marsch- und Gefechtsleistungen in der Schlacht von Tannenberg wesentlich darauf zurück, daß die Truppen vorwiegend der Provinz Ostpreußen entstammten und somit unmittelbar für Frau und Kind kämpften. Diese Leistungsfähigkeit dürfte aber auch auf die landsmannschaftliche Zusammensetzung an sich zurückzuführen sein, unabhängig vom Ort des Kampfes. Tacitus, Germania Kap. 7: "Was die Germanen aber am meisten zur Tapferkeit anspornt, ist der Umstand, daß nicht blindes Ungefähr und willkürliche Zusammenscharung, sondern Familie und Sippschaft die einzelnen Abteilungen des Fußvolks und der Reiterei bilden."

     Im Kriege 1870/71 hatte Deutschland noch eine vorwiegend landwirtschaftliche Bevölkerung. Die Truppenteile entstammten einer gemeinsamen engeren Heimat. Die Kriegsdauer war kurz, die Beanspruchung der Truppe durch Höschstleistungen weit geringer als im Weltkrieg. Die höheren Vorgesetzten kamen mit den Soldaten näher in Kontakt, so daß Einfluß und Vorbild wirken konnte. Auch die unteren Vorgesetzten wechselten infolge der geringeren Verluste nicht so häufig wie im Weltkriege, wo die Kompanien ihre Fährer oft mehrfach in wenigen Wochen verloren. Die Artillerie spielte 1870/71 nicht entfernt die Rolle wie im letzten Kriege. Die Kriegsneurosefälle an der Front kamen vorzugsweise nach Artilleriebeschießung vor, nicht nach Kleingewehrfeuer, worauf Goldstein und Loewy auf der Kriegstagung hinwiesen. Diese Differenz der Waffenwirkung dürfte auf allgemeine Hypersensibilität durch Affektverarmnung zurückzuführen sein, so daß der Krach der Explosionen traumatisch wirkte. Im Feldzuge 1870/71 kamen nur 8 Neurosefälle vor, die im damaligen Sanitätsbericht verständlicherweise als organisch angesehen wurden. Dazu kam im letzten Kriege als neues zeitbedingtes Moment die Vereinzelung, ich möchte sagen Atomisierung des Menschen, die etwas seit 1890 den volksümlichen Zusammenhang aufzulösen begann. Der fluktuierenden und Großstadtbevöklerung fehlte das Heimatgefühl. Die vaterländische Gesinnung wurde nicht genügend gepflegt.

     Zur Frage der Anlage: Gallus sagte auf der Kriegstagung, daß die Fürsorgezöglinge Potsdamer Anstalten sich an der Front ausnahmslos vorzüglich bewährt hatten und nur durch Tod oder Verwundung ausschieden. Ebenso waren Klübers Psychopathen der Erlanger Anstalt im Heeresdienst kriegsverwendungsfähig. Reiss, Tübingen, machte als Frontarzt gute Erfahrungen mit schweren Psychopathen, sobald sie indiviualisierend behandelt wurden. Nach Weygandts und Stranskys Erfahrungen waren die Psychopathen kriegsverwendungsfähig, aber nicht garnisonverwendungsfähig. Rittershaus prägte den Asudruck felddienstfähig, aber nicht garnisonverwendungsfähig.

     Oppenheim lehnte die Bedeutung der Psychopathie für die Entstehung der Kriegsneurose ab. Oppenheim und seine Gegner übersahen einen sich bei bestehender Psychopathie ergebenden positiven Faktor: Die Gewöhnung an das Gemeinschaftsleben in den Fürsorgeerziehungsanstalten hatte zu einer Übung und Stärkung der sozialen Affekte geführt. Die Psychopathen empfanden die psychische Gemeinschaft als Heimat. In dem Theaterstück "Die endlose Straße" fragt der Hauptmann den Soldaten, der vor Ablauf des Urlabus an die Front zurückkehrt, warum er schon komme, worauf dieser antwortet: "Ich wolte heim zu Kompanie". Man könnte einwenden, daß die Fürsorgezöglicnge nicht alle Psychopathen seien, wie es in einer neueren Publikation nachgewiesen wird. Die oben genannten Autoren haben ihre Fälle aber gewiß zutreffend beurteilt. Viele Fürsorgezöglinge hatten eine psychische Fehlentwicklung auszugleichen. Demnach werden Mängel der Anlage und Erziehung durch eine spätere geeignete Gemeinschaftserziehung so weitgehend überkompensiert, daß sich eine zum mindesten ebenso gute Eignung zum Kriegsdienst ergibt wie die der Normalen.

     Die Annahme der Bedeutung der psychopathie für die Kriegsneurose auf der Kriegstagung scheint mir durch die leicht paranoide Einstellung mancher Kriegsneurosekranker herbeigeführt zu sein, die als angeborener Defekt gedeutet wurde. Meines Erachtens liegt hier ein Symptom der Affektverarmnung vor, auf deren Boden ja auch die echte Paranoia ensteht. ohne richtigen Affekt kein richtiges Denken und Handeln. Die Kriegsneurose hat uns gezeigt, daß auch die körperlichen Funktionen ohne richtigen Affekt in Unordnung geraten. Neben Zittern und Lähmungen wurden auch trophische Störungen, Ausfall der Haare, Muselatrophie, Zyanosen, vasomotorisch-sekretorische Störungen, Hyperthermie beobachtet bis zu sklerodermieähnlichen Bildern (Oppenheim). Curschmann betonte auf der Kriegstagung dei Realität der Gefühlsstörung der Kriegsneurose, Ausbleiben der Schmerz-Blutdruckreaktion, d.i. dasselbe Verhalten wie bei grob organischen Gefühlsstörungen, ebenso Nonne, während Böttiger die Realität bestritt. Auf Hypersensibilität der sog. Druckpunkte am Schädel als reales Symptom wies Lange Breslau auf der Kiregstagung hin.

     Auf der Kriegstagung ging man auf die Bedeutung des autonomen Nervensystems für die Erklärung der Symptome nicht näher ein. Es scheint, daß der Muskeltonus wesentlich von der autonomen Innervation abhägt. Böke in Leiden zeigte 1919, daß marklose Nervenfasern zum Muskel gelangen, die er zum autonomen System rechnet; E.Frank vermutete 1919, daß das Kältezittern der quergestreiften Muskulatur auch durch Innervation vom vegetativen Nervensystem ausgelöst wird. Das unwillkürliche Zittern bei starkem Angstaffekt dürfte auf demselben Wege zustande kommen. Hysterische Kontraktur nach Kältereiz erwähnt Briquet in Schjernings Handbuch. Die Hauptsymptome der Kriegsneurose, Zittern und Spasmus, werden durch diese Beobacthungen verständlicher.

     Meines Wissens ist bisher nicht darauf hingewiesen, daß eine symptomatisch der Kriegsneurose ähnliche Neurose beim Pferd vorkommt. Dieses kann bei längerer schlechter Behanlung an Lähmung eines Beines erkranken. heilung ist nur durch gute Behandlung, am besten mit Wechsel des Besitzers, möglich. Die Störung des autonomen Nervensystems kann bekanntlich beim Menschen und Tier zu tötlichen Herzstillstand durch Vaguslähmung führen. Die schlechte Verträglichkeit der Blutverluste im Kriege, die Bonhöffer nach Bier in Schjernings Handbuch mitteilt, ließ nach verhältnismäßig nicht sehr schweren Blutungen den Tod mit Somnolenz und Verwirrtheit eintreten. Die Annahme autonom bedinter Störung im Vasomotrenzentrum macht diese Beobachtung verständlich.

     Die geltende Auffassung der Kriegsneurose wurde neben der Beobachtung an Kriegsgefangenen mit dem Verhalten der Neurotiker im November 1918 begründet, so Nonne in Schjernings Handbuch. Nonne schreibt, daß die letzten Neurotiker von der Straße verschwanden auf Grund ihres "Herrengefühls". Es war also auch nach Nonne der heilende Faktor damals nicht die Entlastung von Kriegsgefahr. Die veränderte Affektlage der Kriegsneurosekranken im November 1918 kann meines Erachtens nicht allein auf das Aufhören der militärischen Disziplin zurückgeführt werden, diese war im Lazarett ohnehin nicht überall streng. Gröbere Disziplinwidrigkeiten der Kriegsneurosekranken kamen nach Nonne im allgemeinen damals nicht vor. Ebenso erkläre ich mir die heilsame Veränderung der Affektlage der Kriegsneurosekranken nicht damit, daß diese die Ereignisse des November 1918 überwiegend innerlich bejahtn. Meines Erachtens trat das von Nonne beobachtete Herrengefühl auf Grund einer allgemeinen Affektanreicherung ein, indem die politische Katastrophe als Affektstoß wirkte und die täglichen neuen Aufregungen der Zeit eine Läsung der psychischen Verkampfung erleichterten; ein großer Sieg hätte meines Erachtens dieselbe Wirkung gehabt; ähnlich auch die bekannte Heilung hysterisch Gelähmter durch Schreck über Feuer oder dgl. Dieses gilt für die echten Kranken; die Anzahl der damals "gesund" werdenden Scheinkranken ist nicht zu unterschätzen. So hält Gaupp die Simulation für häufiger, als angenommen wurde (Schjernings Handbuch). Nonne schreibt, daß der Prozentsatz der Heilungen der behandelten Kriegsneurosefälle nach dem Waffenstillstand weit geringer war. Eine Anzahl ist also damals nicht "von selbst" gesund geworden und blieb auch krank, nachdem von Timor belli keine Rede mehr sein konnte. Es waren dies meines Erachte4ns von den echten Kranken diejenigen, auf welche die Novemberereignisse weder positiv noch negativ stärker geirkt hatten, die daher ohne heilenden Affektstoß geblieben waren.

     Die Heilung einer Neurose nur durch Umweltwirkung wird von Walpole im Roman "Bildnis eines Rothaarigen" geschildert. Der Kranke wird durch zufällich sich ergebende Teilnahme an einer Tanzprozession, die nach Vätersitte alljährlich gefeiert wird, geheilt. Auf der Kriegstagung wurde von einem Tickkranken berichtet, der an der Front gesund wurde: Heilung durch Aufgehen in einer neuen psychsichen Gemeinschaft. Der Weg der Naturheilung, der in manchen Fällen im November 1918 zu beobachten war, wäre auf dem Wegen einer Umwelttherapie schon vorher erreichbar gewesen.

     Bonhöffer sagt in Schjernings Handbuch: "Das Verhalten des einzelnen im Gefecht ist, wenn man von der Bindung durch die Disziplin und die Masse und dem Einfluß der Gewöhnung absieht, ein Experiment auf die Störke der ideellen Vorstellungen gegenüber den im Sinne der Selbsterhaltung wirksamen."

     Die Bindung durch die Masse wird von Bonhöffer überschätzt. Aus der Masse wird eine Truppe nicht nur durch die Disziplin, sondern in erster Linie durch die affektiven Bindungen zwischen den einzelnen Soldaten und diesen und den Vorgesetzten. Zur Stärkung des Geistes der Truppe führte man im Kriege den vaterländischen Unterricht ein. Er hatte wenig Erfolg, da er am Intellekt anfaßte, als Schule wirkte. Der Weg über den Affekt wäre wirksamer gewesen. Die affektive Macht des Beispiels im Gefecht ist im alten preußischen Exerzierreglement für die Infanterie ausgesprochen. Die planmäßige Pflege dieses Gesichtspunktes nicht nur in Hinsicht auf das Gefecht, sondern auch für die gesamte psychische Haltung des Soldaten hätte dazu beigetragen, der Kriegsneurose vorzubeugen.

     Die Macht des Führerbeispiels ohne Worte zeigte der deutsche Hauptmann Tom v. Prince im ostafrikanischen Feldzug. Als die Askaris ihn zu verlassen drohten, indem sie Krankheit vorschützten, zeigte ihnen der Hauptmann seine von eitrigen Wunden bedeckten Beine, worauf sie um Verzeihung baten und ihm folgten. Neurosen scheinen dort überhaupt nicht vorgekommen zu sein infolge der Kunst der Menschenbehandlung durch General v. Lettow-Vorbeck und seiner Unterführer.

     Die Verhütung der Neurosen durch starke Führerpersönlichkeiten und die Heilung derselben durch Psychotherapeuten wie Nonne, Böttiger u.a. beruht auf demselben psychischen VOrgang. Weniger die ärztlichen, als die Führereigenschaften kamen zur Wirkung. Der Kranke trat mit dem entbehrten Führerideal in Beziehung, er fühlte sich geborgen, ihm wollte er Ehre machen. Die infantilen, besser psychisch-juvenilen, Züge vielerNeurotiker wurden auf der Kriegstagung mehrfach betont. Sie bedurften in erhöhtem Grade einer persönlich wirkenden Führung. Nonne bezeichnet die Psychotherapie als zwangsweises Durchbrechen der krankhaft verkehrten Willensrichtung. Die Behandlung ist danach eine Art Ringen mit dem Kranken, "ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn", sagt Nonne darüber. Bei der obigen Defintion werden die aufbauenden eigenen psychischen Kräfte des Kranken nicht beachtet. Die Heilerfolge beweisen nicht die Richtigkeit der Theorie über die Kriegsneurose. Sie waren auf die überragende Persönlichkeit Nonnes und anderer erfolgsicherer Therapeuten zurückzuführen. Diese lösten die Kräfte des Kranken aus ihrer Erstarrung. Die Erfolge konnten bei der Abhängigkeit von der ärzltichen Persönlichkeit nicht gleichmäßig sein. Die Hypnose mit nachfolender militärischer Erziehung fasse ich als Ersatztherapie der psychischen Mangelkrankheit auf; allerdings oft nur zum Teilerfolg "arbeitsverwendungsfähig Heimat" führend.

     In Schjernngs Handbuch macht Nonne 1922 neue Vorschläge für die Behandlung der Kriegsneurose, indem er Armierungskompanien im Felde besonders für Neurotiker einzurichten empfiehlt. Entlassungen und Verlegungen aus den Fachabteilungen sollen in der Regel nur nach der Front zu vor sich gehen, wie es bei den Franzosen schon seit längerer Zeit üblich war. Alle Neurotiker sollen nur ganz niedrige oder womöglich gar keine Rente erhalten. Für solche, die militärisch nicht verwendbar sind, empfiehlt er Arbeit in der Kriegsindustrie. Diese schon im Weltkriege durchgeführte Maßnahme wirkt als Krankheitsprämie. Kriegsverwendungsfähigkeit muß unbedingt erreicht werden. Die Zusammenlegung der Neurotiker in Armierungskompanien würde das Selbstgefühl dieser Kranken noch weiter herabsetzen; sie bedürfen zu ihrer Heilung des Zusammenseins mit günstig auf sie einwirkenden Kameraden.

     In einem weiteren Vorschlag kommt Nonne den Folgerungen Meiner Auffassung näher, indem er empfiehlt, den heilbringenden und krankheitsverhütenden Faktor, der zweifellos in der militärischen Erziehung enthalten ist, auch bei den Truppenteilen in geschickter und wirksamer Form zur Anwendung zu bringen, da im Lazarett die schönsten Heilerfolge häufig der geschickten Anwendung der militärischen Disziplin, besonders in Form von Turnen und Exerzieren zu verdanken seien.

     Zur Therapie möchte ich vorschlagen: Rente oder Entlassung aus dem Heeresdienst sind grundsätlich verboten. Die Kriegsneurosekranken werden vom Truppenarzt nicht in das Lazarett, sonder in ein Genesungslager überwiesen; nur Fälle, die diagnostisch zweifelhaft sind, kommen für einige Tage in Fachabteilungen und von dort in das Genesungslager. Der Leiter dieses Lagers soll eine Führerpersönlichkeit sein, wie man sie z.B. unter ölteren Offizieren im Ruhestand vielfach findet, ihm ist ein Sanitätsoffizier beigegeben. Dieser wird einzelne Kranke persönlich vornehmen. Mancher wird durch die psychische Umwelt allein geheilt werden. Eine Anzahl gesunder ausgesuchter Mannschaften mit den notwendigen Unteroffizieren und Kompanieführern bilden die Umgebung des Kranken. Das Lager würde etwa für 3 bis 4 Kompanien eingerichtet sein. Die Kranken betragen 10 bis 20% der Gesunden. Die Gefahr psychischer infektion wurde überschätzt, die Häufigkeit der Simulation in Lazaretten unterschätzt. Gemeinsame Körperübungen und Exerzieren, Musik, Sport, besonders Fußball, Unterhaltungsabende, kleine Festa auch mit Tanz würden neben der Anbahnung neuer Beziehung mit gesunden Kameraden die Heilung einleiten. Musik und Gesang ist meines Wissens in der Behandlung der Kriegneurosekranken nicht planmäßig angewandt worden; sie enthalten wirksame Heilfaktoren. Gewährung mäßiger Freizeit an die Soldaten des Lagers ist nötig, um die Bedingungen positiver Affektentwicklung zu erleichtern. Zu viel oranisieren schadet in dieser Hinsicht. Die Umwelt kann zur Heilung ausreichen. im Kriege wurden refraktäre Neurotiker nach Entlassung in der Heimat bald von selbst symptomfrei. Diesen heilsamen Einfluß sollte die Truppe auch ausüben können. "Wer ist mehr Volk als eine Armee" (Napoleon). Die Kranken und Gesunden des Genesungslagers sollen derselben Gegend entstammen. Die Geheilten dürfen von ihrer neugewonnenen psychischen Umwelt nicht getrennt werden sondern die Kompanien müßten in der gleichen Zusammensetzung von Offizieren, Sanitätsoffizieren, Unteroffizieren und Mannschaften an die Front gehen. Ein kleiner Bestand des Genesungslagers dürfte nur allmählich ausgewechselt werden, um die Kunst der Behandlung zu überliefern. Verluste müßten laufend nur durch Landsleute ergänzt werden; Ausfall der Offiziere und Kompanieführer bei Fehlen voll geeigneten Offizierersatzes sollte durch Unteroffoziere derselben Kompanie oder aus dem landsmannschaftlich zusammengesetzten Stammtruppenteil erfolgen. Die Kompaniensollten den Namen des Kreises tragen, aus dem sie stammen; die Städter könnten z.B. auf der Basis von Sportvereinen und dgl. zusammengeschlossen werden. Es sollen hier nur Anregungen gegeben werden, die gewiß sich verbessern lassen. Es liegen da noch große Möglichkeiten, über die noch manches zu sagen wäre.

     Zu jedem Regiment sollte ein psychiatrisch, psychologisch und psychotherapeutisch und natürlich auch allgmeineärztlich ausgebildeter Sanitätsoffizier gehören. Neben der allgemeinärzltichen Tätigkeit und psychologischen Beratung der Führung sollte dieser den Soldaten Gelegenheit geben, sich bei ihm ohne Zeugen auszusprechen. So wird nicht nur manchem Neurosefall vorgebeugt, sondern es wäre auch eine fortlaufende Kontrolle des Geistes der Truppegegeben. Er hätte darauf zu achten, daß die Truppe nicht nur körperlich, sondern auch psychisch kriegsverwendungsfähig ist. Die Heeresgruppen sollten ebenfalls einen psychologischen Beirat haben. In der Ausbildung nicht nur der Sanitätsoffiziere, sondern auch der Offiziere sollte ein psychologgischer Kursus eingeführt werden.

     Zum Schluß noch eine Bemerkung zur Rentensucht: Die Aufnahme der Kriegsdienstbeschädigungsverhandlung und das Beispiel bereits gewährter Renten wirkte trumatisch. Der Wunsch nach Rente hat seine Wurzel nicht nur in dem einfachen Trachten nach Besitz. im dunklen Gefühl der Affektverarmnung strebten die Kranken mit infantiler Begehrlichkeit nach Anerkennung, die ihnen nur in Form von Rente zugänglich war. Die Beziehung Geld - Liebe ist aus der Behandlung sonstiger Neurosen bekannt. Auch das in Beziehungtreten zur Allgemeinheit, das mit dem Begriff Rente verbunden ist, wird von den Neurotikern instinktiv als Heilfaktor erstrebt.

Zusammenfassung

     Die Kriegsneurose ist eine psychisch-soziale Mangelkrankheit. Die psychisch-sozialen Faktoren werden von der geltenden Auffassung nicht berücksichtigt. Die KRiegsneurose ist nicht Zweckreaktion, sondern das Resultat der affektiven Verarmnung. Die Symptome sagen: "So geht es nicht." Damit sit der Ansatz zu einer anagogischen Tendenz gegeben. Das Heilungsbestreben der Kranken war war echt. Im Gefühl der Verkennung desselben durch den Arzt entwickelte sich der psychische Zustand, der als Dysbulie bezeichnet wurde; schließlich wurde darunter ein Nichtgesundwerdenwollen des Kranken verstanden. Die Dysbulie war eine Ablehnung des Arztes, nicht der Genesung.

     In früheren Kriegen genügte die natürliche gewachsene Volksverbundenheit und der größere Einfluß der Führer zur Aufrechterhaltung eines positiven Affektzustandes des Soldaten. Die besonderen Verhältnisse des Weltkrieges schafften günstige Bedingungen für Affektverarmung. Zufälligkeiten der psychischen Entwicklung und Ungunst der äußeren Umstände konnten zu hochgradiger chronischer Affektverarmung führen, so daß die psychische Verarbeitung eines Traumas nicht möglich war. Das Auftreten der Kriegsneursoe ist in höherem Grade von der Erziehung und psychischen Umwelt abhängig als von der Anlage. Nur in extremen Fällen ist diese ausschlaggebend. Zur Vorbeugung und Heilung wird planmäßige Affektpflege der Mannschaften sowie psychologische Ausbildung der Führer vorgeschlagen.

Literarische Anmerkungen
  • Schjernings Handbuch der ärzltichen Erfahrungen im Weltkriege 1914/1918. Leipzig 1921/22.
  • L.R.Müller, Das vegetative Nervensystem. Berlin 1920.
  • K.Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Sammlung Göschen. Bd. 1000. 5. Aufl Berlin 1933.
  • Allg Z. Psychiatr. 73, Bericht über die Kriegstagung

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